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Hommage à l’orgue et à son maître

(Hommage der Orgel und ihrem Meister)

Essay von Thomas Brandsdörfer über die Sauer-Orgel opus 2272 in der
Ev. Auferstehungskirche
Düsseldorf-Oberkassel.

 

 

 

Hommage à l’orgue et à son maître 
(Hommage der Orgel und ihrem Meister)

Zuerst eine Warnung (man soll sich doch verteidigen!): Ich bin kein Kenner der Musik. Meine wunderbare Verbindung zu ihr ist eine Art Einbahnstraße, auf welcher Emotionen und erhabene Träume von ihr in Richtung Seele sausen. Verstand und Fachkenntnisse haben nichts verloren bei meinen Treffen mit der Musik. Demnach fehlt es gänzlich an Kompetenz, um über ihr Universum schreiben zu dürfen. Trotzdem wage ich „das Sakrileg“ und schreibe ein paar Gedanken nieder:
Der Anlass, der mir Mut gegeben hat, war eine aufregende Besichtigung der Orgel in der Auferstehungskirche zu Düsseldorf, begleitet von Thorsten Göbel, Kantor der Gemeinde. Ich war in der Orgel – ja, ja! „in der…“ ist vollkommen richtig -, in ihrem Innenraum- und Leben. Gewiss, als gutbürgerlicher Sterblicher habe ich wiederholte Male eine Orgel „gesehen“ und gehört. Ich konnte aber nicht ahnen, was hinter der edlen Fassade, auch Prospekt genannt, und auch hinter der ganzen Welt ihrer Klänge steckt. Ich wusste nichts von der immensen Liebe und der Intelligenz, mit welcher tausende von Elementen im Namen der Harmonie in einer Orgel verbrüdert sind. Siehe: Spontan habe ich im vorigen Satz gleich drei kapitale Begriffe eingebaut: Liebe, Intelligenz und verbrüdert sein/Brüderlichkeit. Ich nenne sie „kapitale“ denn meiner Überzeugung nach, das Wesen der Orgel selbst gründet auf diesen: Liebe, Intelligenz und Brüderlichkeit.
Die Innenwelt der Orgel ist eine Welt der Liebe. Von Liebe zeugt das handwerkliche Können, ohne das keine Orgel auf dieser Welt geboren wäre. Hand Werk ist Hand legen auf die Materie, um sie entsprechend den menschlichen Wünschen zu gestalten. Hand Werk ist ein Werken mit demiurgisches Parfüm, weil des Menschen Hand und Wille neue Identität der Materie verleiht. Die werkelnde Hand vollstreckt eine Genese der Materie, vollstreckt ihren verblüffenden Werdegang von dem Status der Natur zu dem, den man Kultur nennt. Der Handwerker prägt seinem Objekt etwas von sich selbst: Gedanke, Wille, Wünsche und Emotionen auch. Geburtsverursacher- und Helfer, des Handwerkers Hand benötigt außer Können auch Liebe. Liebe für ihren Zweck und auch für das gewählte Element, dass sie umzuwandeln will. Handwerk ohne Liebe und Zuwendung ist kein Handwerk – es kann auch von Maschinen gemacht werden. Da es eine Orgel ohne Handwerk nicht gibt, ist man berechtigt zu behaupten, dass die Innenwelt der Orgel unter dem Stern der Liebe entstanden ist.
Damit ist die Verbindung zwischen dem Prinzip der Liebe und dem Orgel Wesen lange noch nicht erschöpft. Wie auch ihr Name sagt, die Orgel ist ein Organ .(1) Als solche hat sie selbstverständlich eine Funktionalität, uns allen wohl bekannt: Musik zu emittieren (2). Die Behauptung Musik sei Liebe, Liebe der Klänge, ist nicht nur ein mehr oder weniger gelungener poetischer Ausdruck. „Musik ist Liebe der Klänge“ entspricht vollkommen der Wahrheit! Schon die Griechen der Antike machten keinen großen Unterschied zwischen Harmonie und Symphonie und bezeichneten diese Grundprinzipien der Musik als Zusammenklingen, übereinstimmen, sich einigen. Das griechische Wort sym-phónos (σύμ‑φωνος) bedeutet harmonisch, wiederhallend, übereinstimmend, einträchtig. In dem Plädoyer für die Idee „Musik ist Liebe der Klänge“ kommt hinzu, dass durch die Partikel „sym“ das Wort symphónos / symphonisch mit sym-patheia Verwandt ist (συμπάθεια / sympatheia = Mitempfinden, das selbe Pathos/Leidenschaft/Gefühle mit jmd. zu haben/teilen). Man kann jetzt begründet sagen die Symphonie ist die Sympathie der Klänge. Die Musik ist eben symphonos der Klänge, ist deren Harmonie, deren Übereinstimmung, deren Eintracht, deren Sympathie… Sie ist deren Liebe zueinander. Die Orgel ist ein Organ, das Liebe ausatmet, denn bei seiner Entstehung auch Liebe eingeatmet hat. Das weiß wohl auch ihr Hand Werker!


(1) Das Wort Orgel hat sich gebildet von dem griechischen Wort organon = u.a. Instrument, Musikinstrument, Sinnesorgan(!). Dieses, über das lateinische organum = Werkzeug, Musik­instru­ment und Orgelpfeife(!) und später über das Althochdeutsche organa und Mittelhoch­deutsche organe, orgene ist „Orgel“ geworden. (siehe: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache)

(2) Die Etymologie des Wortes organon zeigt auch die Idee der Funktionalität/Aktivität eines „Organs“. Organon gehört zu der Familie des Wortes ergon (έργον) = Werk, Tat, Arbeit, (Kunst-) Werk etc. Bezeichnend und gleichermaßen spannend: ergon hat dieselbe Abstammung mit „Werk, “Wirkung“, „Tun“, „Machen“ etc. Es ist das indo-germanisches Wort uerg = wirken, tun; uergom = Werk, dass  dieser beiden zu Grunde liegt. Die Odyssee des Wortes uerg streckt sich über viele Sprachen und Länder, jedoch die Bedeutung gleich bleibend: avestisch: vərəzieiti, gotisch: waúrkjan, althochdeutsch: wirkan, wirchen, altsächsisch: wirkian, altisländisch: yrkia, angelsächsisch: wyrkan etc. etc. Als ob lange vor ihrer Geburt im Wesen der Orgel das Wirken, das Organ‑sein, das Werk‑sein- und produzieren eingepflanzt worden wären! (siehe: Pierre Chantraine, Dictionnaire éty­mo­­­logique de la lague grecque und Julius Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch)

 

 

 

Die Innenwelt der Orgel ist eine Welt der Intelligenz. Auch in diesem Sinne bestätigt die Orgel ihre Etymologie: Aristoteles nannte organon auch die Logik, verstanden als Erkenntnisinstrument. Fachkenntnisse sind gar nicht nötig, um festzustellen, dass im Wesen dieses musikalischen Instruments nüchterne Gedanken, Verstand, Vernunft und Rigorosität regieren. Nicht nur seine kaum vorstellbare Komplexität, sondern auch die Formen und wohl gedachten Proportionen seiner Komponenten lassen ahnen: Im Innenraum dieses Organs schwebt der Geist der Zahl. Keine Überraschung! Denn Musik, die die Orgel emittiert, ist selbst Zahl, Mathematik. Schon die Pythagoreer, die „Alles ist Zahl“ riefen, stellten eine Verbindung fest zwischen den angenehmen Klangintervallen und den mathematischen Proportionen der Ganzzahlen. Deren Feststellung ist der Ausgangspunkt einer sich permanent entwickelnden (mathematischen)Wissenschaft der Klänge und deren Harmonie geworden. Vertiefend die Untersuchungen Pythagoras, Martin Mersenne bringt die Idee der Verbindung zwischen Harmonie, Ordnung und Mathematik auf den Punkt: Die Harmonie ist für ihn die Ordnung, die durch mathematische Proportionen ausgedrückt werden kann (Harmonie universelle – 1636). Leibniz sagte, die Musik sei exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi – eine unbewußte Übung in der Arithmetik, bei der der Geist nicht weiß, dass er zählt (Brief Nr. 154). So viel über die allgemein bekannte Verbindung Mathematik – Musik, beziehungsweise Harmonie. Aber die wahre Symbolträchtigkeit der musikalischen Harmonie, mathematisch erklär- und ausdruckbar, entfaltet sich erst mit der Idee, dass sie auch die Harmonie der Welt sein soll, die Ordnung des Universums. So, durch ihr erklärbares Basis als Phänomen und nicht zuletzt dank ihrer sinnlischen Schönheit, die Musik verkörpert, besser gesagt vergeistlicht einen uralten Menschentraum: Die Welt sei harmonisch, verständlich und vor allem schön. „Die Welt ist Kosmos“ – sagte schon der Vorsokratiker Anaximandros (in griechisch kosmos κόσμος – bedeutet Ordnung und Schönheit/Schmuck!). Es ist schwer, sehr schwer zu sagen, was die Menschheit und ihre Zivilisation ohne diesen Glauben geworden wäre! Eine eindrucksvolle Gallerie der edelsten menschlichen Geister hat von der Antike bis heute die musikalische Harmonie gleich gestellt mit der – vermuteten? gewünschten? – Harmonie der Welt, des Universums. Platon (sein Dialog Timaios), Boetius, Paracelsus, Johannes Kepler (Harmonices mundi libri quinque), die Astronomen Titius und Bode, Arthur Schopenhauer, Francis Warrain, Rudolf Haase und Joachim­Ernst Berendt (Nada Brahma – die Welt ist Klang) bilden nur einen Bruchteil der Gelehrten, die glauben, die Welt und die Musik sind gleichermassen auf eine logische Ordnung, mathematisch nachvollziehbar und harmonisch eingerichtet. Die Welt ist Musik. Die Musik ist eine Welt regiert von der harmonischen Intelligenz im Schönen. Eine wünschenswerte Welt! Tatsächlich die Kette Intelligenz – Harmonie – Schönheit, mit ihrem Korelat „das Gute“, bringt die Gedanken sehr nahe dem moralischen System von Kant! So ist Musik, so könnte sein die Welt!
Da die Musik im allgemeinen solche Eigenschaften besitzt und diese Funktionalität und Symbolik hat, könnte man behaupten, sie sind zu sehen in jedem musikalischen Instrument. Theoretisch ist es so. Praktisch sind sie aber mit bloßen Augen am besten zu sehen, nur in der Orgel, denn spätestens seit der Romantik umfasst sie so gut wie alle Instumente, alle Töne und Klangfarben. Die Orgel trägt in sich eine ganze Welt der Klänge. Sie trägt in sich Musik, die sichtbar ist, auch förmlich in ihrem Innenraum. Die Landschaft der Innenwelt der Orgel zeigt die Gestalt der Intelligenz, der Harmonie und der Schönheit selbst. Sie zeigt uns die Gestalt der Musik und die der Welt, die wir uns wünschen. …die Innenwelt der Orgel!{mospagebreak title=3. eine Welt der Brüderlichkeit}

 

 

Die Innenwelt der Orgel ist eine Welt der Brüderlichkeit haben wir am Anfang dieser Schriften behauptet. Es ist die leichteste Übung, uns davon zu überzeugen. Betrachten wir die Orgelpfeifen: Einige sind dünn und kurz, nur 15 Zentimeter, andere, nicht weit entfernt, betragen bis zu 3 Meter Höhe und auch mehr, sind kaum erfassbar mit den beiden Armen. Majestätisch, prächtig, achtungsgebietend sind die großen! Man ist geneigt zu glauben, im Innenraum der Orgel haben sie das Sagen, sie führen, dominieren wie legendäre Könige. Es ist teilweise wahr: Wenn die großen Pfeifen „sprechen“, sind sie nicht zu überhören. Sie nehmen in ihren Bann Zuhörers Herz, Gedanken und den Körper ganz. Doch es wäre weit gefehlt zu glauben, in der Orgel herrscht die Diktatur, eine (militärisch)pyramidale Einrichtung der Wichtigkeiten und Prioritäten. Die Musik, der Orgel höchstes Ziel und Sinn, hat allen Teilen ihr Grundprinzip geprägt: Unabhängig unterschiedliche Leistungen (betrachtet von einem oder anderem Standpunkt), ist kein Element wichtiger, als das andere. Als ob die Töne wüssten, dass deren eigener Glanz und Persönlichkeit nur in Nachbarschaft und im Vergleich mit anderen Tönen zur vollen Geltung kommen. Die Harmonie und letztendlich die Melodie ruhen auf der feinen Dialektik zwischen Entfernung und Verwandtschaft. Für einen Ton, allein zu sein, bedeutet vielleicht seinen Tod. So sind auch alle Teile einer Orgel zur Brüderlichkeit verdammt. Im Innenraum der Orgel findet eine subtile Beziehung zwischen unus und totum, zwischen dem Einzeln und dem Ganzen statt. Leistungsunterschiede erlaubt und erwünscht, Wichtigkeitsunterschiede – ein Fremdwort im Innenraum der Orgel! Das unum steht für das totum, das totum für das unum und beide getrennt können gar nicht existieren. Darin ist zu durchblicken ein Sozialmodell von edelstem Schnitt. Ein Traum der Menschheit und der Demokratie. Ein Traum! Die Innenwelt der Orgel ist eine Welt der Brüderlichkeit mit sozio moralischen Andeutungen.

Schließlich muss erinnert werden, dass die Orgel ein Instrument aerophon ist, obwohl die Ur Orgel (um 246 vor Christus) hydraulis hieß.(3)  Es gibt einen kleinen aber signifikanten Unterschied zwischen ihr und ihrer Funktionalitäts Verwandten, genannt auch Blasinstrumente. Während Trompete, Horn, Posaune & co. geblasen werden müssen, sie empfangen also eine „Verlängerung“ des menschlichen Ausatmens, die Orgel atmet weitgehend selbstständig ein. Ein richtiges Organ! Vom Wind- Windladen- und Kanälen ist die Rede im Innenraum der Orgel. So verkörpert sie am deutlichsten eine gewisse äolische Neigung der europäischen Spiritualität.(4)  Tatsächlich ist in unserer Kultur, viel mehr als in den anderen, das Thema Luft und ihre Bewegung – der Wind – häufiger präsent in Glauben, Mythen und Symbolen. Im Norden Griechenlands, in der Antike, hat man geglaubt, dass Zeus seine Absichten und Botschaften zu den Menschen durch Wind ausdrückt. Das Wort pneuma stand sowohl für „Wind“, als auch für „Heilige Geist“. In dem christlichen und jüdischen Glauben am Anfang der Welt wehte über den primitiven Meeren das Gottes Atmen als Wind (ruach genannt) um diese zu befruchten und die große Schöpfung zu beginnen. Es gibt unzählige Stellen in der Heiligen Schriften, wo Wind und Gottes Geist, wo spiritus, anima und pneuma in enger Verbindung gebracht werden (Erstes Buch der Könige; Johannes III.8; Die Apokalypse nach Johannes VII. 1-3 etc. etc.). Hinzu kommt die häufige Präsenz des Windes als Symbol in allen möglichen Glauben und Aberglauben, in der Kunst (z.B. Tristan und Isolde!), in der Psychoanalyse und auch seine ungeheuerliche Wichtigkeit in der Schifffahrt, wo er über Leben, Tod und Erfolg entscheidet. Ja, der Wind scheint ein gewisses organisatorisches Schema des anschaulichen Denkens zu prägen. Wie in der Ur Legende der Entstehung, wird die Orgel zum Leben und Musik, zu ihrem Sein, durch Wind erweckt. Sie atmet ein und aus und wird getragen, wie die Welt, vom Geist und Wind. Die Orgel ist pneuma und anima zugleich, sie ist aerophon par exellence. Sie mimt die große Schöpfung nach.
Durch die Musik kann man die moralische Dimension der Harmonie erraten. Wiederum, nur durch das Prinzip der Harmonie ist eine mathematische Dimension der Moral vorstellbar. Die Orgel hat es, bildlich und sinnlich, in sich! Sie lehrt es uns. Wir brauchen nur zu hören, zu betrachten und zu denken… Lob der Orgel!
Mit solchen Eigenschaften und Symbolik der Orgel ist es auch selbstverständlich, dass die Kirche folgende Empfehlung ausspricht: „Die Pfeifenorgel soll in der Kirche als traditionelles Musikinstrument in hohen Ehren gehalten werden; denn ihr Klang vermag den Glanz der kirchlichen Zeremonien wunderbar zu steigern und die Herzen mächtig zu Gott und zum Himmel emporzuheben.“ Seit 826, als Kaiser Ludwig der Fromme, Sohn Karls des Großen, in seiner Pfalz zu Aachen eine Orgel installieren ließ, kann sich die deutsche Seele erwärmen und erheben in der erhabenen Begleitung dieses Instrumentes. Auch Mozart, der kaum Orgelmusik geschrieben hat, pries sie (!): „Die orgl ist doch in meinen augen und ohren der könig aller instrumenten.“ Lob der Orgel!
Wir haben Angst vor Chaos und vor Entropie, wir fürchten das Unerklärbare und den Moralverlust… Wir haben Angst! Die Orgelmusik und ein Blick in die Orgelinnenwelt können wohl behilflich sein. Denn da befinden sich versammelt die Kinder und die Mütter der Liebe, die Stätte der Intelligenz und Schönheit und die Achsen einer wünschenswerten Ordnung. Die Orgel ist ein index mundi, Resümee und Anzeiger der Welt, …der Welt wie wir sie uns wünschen.


(3) Sie ist fälschlicherweise so genannt weil ihr Luftdruck durch Wasserkraft erzeugt wurde.

(4) „äolisch“ ist als Ableitung vom Æolos/Aiolos = der griechische Gott der Winde zu verstehen.

 

 

 

 

Für einen Musiker bedeutet sein Musikinstrument viel mehr als das, was im Alltag als „Instrument“ bezeichnet wird. Es ist für ihn auch mehr als nur ein Mittel. Das Musikinstrument ist ein Medium mit Eigenständigkeit und Eigenartigkeit, in welchem die Seele des Musikers sich artikulieren kann und will. In Musik mutiert „das Instrument“ zum Organ des jeweiligen Musikers. Gar keine Frage: zwischen dem Mensch Musiker und seinem Instrument-Organ besteht eine innige Beziehung, die man auch organisch nennen kann. Sie sind untrennbar! Eine Zusammenschmelzung der Beiden beim Musizieren, ist nicht zu übersehen. Durch die Art des Musikers, sein Instrument zu fassen, durch seine Haltung- und Bewegungen entsteht eine wahre Choreographie, die die Musik begleitet. Der spontane „Tanz“ des Musikers mit seinem Instrument Organ nachvollzieht die subtile Verbindung zwischen Musik und Bewegung (denn, philosophisch verstanden, Musik und Bewegung sind Werdegang der Töne bzw. der Positionen, Werdegang der Werte; also die Musik ist auch Bewegung!). Wenn harmonisch, Tanz/Bewegung ist Musik in Körperform (musica in re – wie Schopenhauer sagen würde). Wiederum, die Musik ist die Bewegung, der „Tanz“ der Töne (ante rem/vor der Körperlichkeit – wie Schopenhauer sagt). Als Folge dieser „Alchemie“ ist es ein Genuss, nicht nur zu hören, sondern auch ein Konzert zu sehen.
Der Musiker und sein Instrument-Organ sind jetzt ein Paar. Ergeben zueinander, sich liebend, sie schweben sinnlich und bildlich auf den Wogen der gespielten Musik. Wie zärtlich umarmt der Geiger seine Geige! Wie er sie streichelt mit lang, diskret bewegter Hand oder mit Kraft und Leidenschaft! Er schaukelt sie mal links, mal rechts, als ob er sie in Traum versetzen wolle. Er liebt sie, zweifelsohne! Er kann nicht ohne sie, sie auch nicht ohne ihn. Betrachten wir den Cellist, am besten die Cellistin: Sie umfasst ihr Instrument wie Aphrodite, die Göttin der Liebe. Sie verwöhnt ihr Cello wie nur die Weiblichkeit in ihrer schönsten Form es machen kann. Sie beugt den Kopf zu ihrem Instrument, als ob Geheimnisse zu flüstern wären. Umarmt das Cello mit ihren langen Armen, um seine Antwort mit ganzem Körper zu empfangen. Die Antwort kommt! Das Instrument Organ verwöhnt sie jetzt mit Tönen vom Himmel kommend. Die Resonanz vereint die Beiden. Sie fliegen nun zusammen sehr weit in voller Harmonie und Liebe. Ähnliches kann man bei den Blasmusikern sehen: wie sie richten deren Instrument mal nach oben gen Himmel, mal in Richtung Erde, wie sie zeichnen in der Luft Bewegungen, die an einen Tanz erinnern. Eindeutig, die Beiden sind eins. Auch die Berührung der Schlaginstrumente bildet ein Ballett mit Gestik von allen Farben und Schattierungen. Die Kraft, Entschiedenheit und Männlichkeit, verflechten sich mit ungeahnter Diskretion und Zärtlichkeit. Die Fee, die Harfe spielt, bewegt sich auf ihrem Instrument wie die Algen im Wasser, als ob die beiden in dem mythischen Milieu für ewig schwimmen. Von dem toucher eines Pianisten sprechen die Franzosen. Von der Sinnlichkeit und Emotionalität des Anschlags auf der Klaviatur ist beim Piano spielen die Rede. Wie ausdrucksvoll beugen sich Pianisten über die Klaviatur, man glaube sie wollen tief ins Innere ihres Instrument Organs eintauchen! Und dann, fast unerwartet, lehnen sie sich zurück, befreit, als ob gleich mit der Musik sie fliegen wollen!
Spontane Bewegungen, ja, Tänze im Dienste der Musik! Diese „Begleiterscheinungen“ sprechen über die innige Beziehung des Musikers mit seinem Instrument Organ. Es ist nicht zu übersehen, dass die Beiden unter dem Stern des Eros sich vereinigen. Der Eros, verstanden edel, wie in der Antike, verwandelt Musiker und Instrument in eine Monade – unzersetzbar, unzerschlagbar im Namen der Liebe und der Musik. Hörbar ist diese Liebe sowieso, sichtbar aber ist sie eben durch die begleitenden Bewegungen des Musikers mit seinem Instrument.
Wie benimmt sich, wie bewegt sich der Organist gegenüber seiner geliebten Orgel? Wie kann er seiner Geliebten – um die Metapher zu behalten! – die ganze Welt, die sie trägt, entlocken? Wie kann er sie zu einer Antwort überzeugen? Um zu bekommen muss man geben. Die holde Orgel, Mutter aller Töne, trächtig von Intelligenz, ist anspruchsvoll bevor sie antwortet. Sie ist die riesige Geliebte, in deren Gunsten man nur durch ausgewählte Wege kommen kann. Nicht Kraft, nicht Pathos, vielleicht auch nicht entfesselte Bewegungen können sie stimmen… viel mehr die Klugheit und der Glauben, die Sinnlichkeit und die Liebe in raffinierter Form können sie erwecken und zum „sprechen“ überzeugen. Sie gibt wahre Juwelen, nur wenn sie Juwelen kriegt. Der Liebhaber der Orgel muss Liebe mit Intelligenz, muss Sinn mit luzidem Glauben verschmelzen, um wiederum von ihr intelligente Liebe und Sinnlichkeit im Glauben zu bekommen. Weise Bescheidenheit, nicht männlich-meisterliches Kraft Gehabe, bringt die Liebhaberin Orgel zum blühen. Sie weiß besser als wir, dass wahre Männlichkeit Intelligenz und Sinnlichkeit bedeutet. Der Orgelmeister soll diesen hohen Anspruch seines Instrument Organs völlig verstehen und akzeptieren. Er soll verstehen, dass er vor allem ein Meister der Seele und der Intelligenz sein muss. Nur so kann er Maestro werden!
Der liebenswürdige Mann, der mich in Innenraum- und Welt der Orgel begleitet hat, hat es verstanden… wie man Maestro wird! Ich habe das in seinen Augen abgelesen. Thorsten Göbels Blick erzählt über die Fähigkeit mit Begeisterung, Liebe und Neugierde vor der Welt zu staunen. Diese Art von Blick erinnert mich an die berühmten sokratischen Verzückungen beim Betrachten der ganzen Schöpfung. Verzückungen die „unseren Geist und uns in Gott versetzen“ – wie der große Humanist Pico della Mirandola sagte.
Es bleibt mir, Thorsten Göbel zu danken und der ehrenwürdigen Firma Sauer aus Frankfurt Oder, gegründet schon im Jahre 1857 vom Wilhelm Sauer, die die wunderbare Orgel, die mir als Inspirationsquelle diente, in der Auferstehungskirche zu Düsseldorf gebaut hat.

Thomas Brandsdörfer
 am 17. November 2007

 

© Thomas Brandsdörfer. Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Essay wird veröffentlicht in:
MATRIX – Zeitschrift für Literatur und Kunst – www.edition-matrix.com (Nr. 1/2008),
herausgegeben von POP-Verlag (www.pop-verlag.com/) in Ludwigsburg.

 

 

 

 

Thomas Brandsdörfer

wurde in Rumänien als Sohn eines Deutschen und einer Russin, die 1917 ihre Heimat verlassen musste, geboren. Seit 1969 ist er im Bereich der Kunst und der Kunsttheorie tätig, auch unter dem Pseudonym Vladimir Brându.

  • Er war Schauspieler, Regisseur, Dramaturg und hat Bühnenbilder und Plakate entworfen. Seine Bühnenadaptation des Werkes Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam hat er in Deutschland uraufgeführt.
  • In Schweden hat Thomas Brandsdörfer eine internationale Kunstgalerie ge­gründet und über mehrere Jahre geführt.
  • Er hat zahlreiche Kommentare, Artikel und Studien über Kunst in Fach­zeit­schriften, im Fernseh- und Hörfunk veröffentlicht. In den 70-er Jahren hat er entscheidend bei der Gestaltung der Kunstseiten der Literaturfach­zeit­schrift Steaua in Cluj-Napoca (Klausenburg) mitgewirkt.
  • 1979 veröffentlichte er ein kunsttheoretisches Buch: Artã ºi criticã în per­spectivã comunicaþionalã (Kunst und Kritik vom Standpunkt der Kom­mun­i­ka­tion) (EminescuVerlag, Bukarest).
  • 2006 erscheint eine grössere Auswahl seiner Essays unter dem Titel Eseuri – numite de autor ºiPanseluþe (Essay’s – vom Autor auch Stiefmütterchen ge­nannt) und die erste Auflage des Romans Frumoasa insulã (Die schöne Insel) (Clusium Verlag, Cluj-Napoca/Klausenburg).
  • 2007 hat er den Groß-Roman Die Zeiten der Illusion geschrieben (beinhaltet eine Analyse der gesellschaftlichen Ereignissen des XX-ten Jarhundert).

Seit 1980 lebt und arbeitet Thomas Brandsdörfer in Düsseldorf-Oberkassel. Ist Mitglied der Evangelischen Kirchengemeinde Düsseldorf-Oberkassel.